Das Höchstgericht, Daten und Indizienbeweise
In seinem Beitrag im standard vom 13. Juli geht Christoph Kletzer mit den Kritikern des VfGH-Entscheids zur Wahlaufhebung sehr scharf zu Gericht; sein Vorwurf lautet „zum Lesen gehört auch Denken“.
Er glaubt, mit einem fiktiven Zahlenbeispiel belegen zu können, warum die Wahlaufhebung gerechtfertigt ist. Dieses Beispiel passt aber überhaupt nicht zu der Sachlage, die der aktuellen Wahlaufhebung zugrunde liegt. In dem Beispiel geht es um ein Wahlergebnis, in dem ein Kandidat nur eine Stimme Vorsprung hat und in dem bei zwei Stimmen Verfahrensmängel festgestellt wurden.
Im aktuellen Fall geht es um insgesamt 77.769 Stimmen, die in den 11 Bezirken, in denen ergebnisrelevante Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden, abgegeben wurden. In ganz Österreich gibt es 117 Bezirke, daher sollte man, wenn man Unregelmäßigkeiten vermutet, die aufsummierten Ergebnisse der beanstandeten und der nicht beanstandeten Bezirke vergleichen. Es in den beanstandeten Bezirken 2,6% ungültige Stimmen, in den nicht beanstandeten 2,5%. Hofer erzielte in den 11 beanstandeten Bezirken 45,5% der gültigen Stimmen, in den nicht beanstandeten 106 Bezirken 37,4%. Außerdem schnitt Hofer in allen nicht beanstandeten Bezirken (mit einer Ausnahme) bei den Wahlkartenstimmen schlechter ab als bei den Urnenstimmen, und zwar ingesamt um 13,8%.
Die Ausnahme ist Wien Wieden, dort schnitt Hofer bei den Wahlkarten um 0,2% besser als bei den Urnenstimmen ab.
In den beanstandeten Bezirken schnitt Hofer in Summe bei den Wahlkarten um 12,0% schlechter ab als bei den Urnenstimmen.
Die Ergebnisse in den beanstandeten und den nicht beanstandeten Bezirken folgen also demselben Muster, es gibt nicht die geringsten Hinweise, dass das Wahlergebnis in den beanstandeten Bezirken systematische Unterschiede zum Ergebnis in den nicht beanstandeten Bezirken aufweist.
Machen wir, der Argumentation von Herrn Kletzer folgend, ebenfalls ein Gedankenexperiment. Versuchen wir herauszufinden, wie stark sich das Ergebnis in den beanstandeten Bezirken vom aufgehobenen Endergebnis unterscheiden müsste, damit Hofer Wahlsieger wäre. Der Abstand zwischen Van der Bellen und Hofer beträgt 30.863 Stimmen; Hofer müsste also bei den Wahlkartenstimmen in den beanstandeten Bezirken noch 15.382 Stimmen mehr als im offiziellen Ergebnis haben. Das hieße, dass er dort 65,9% der Stimmen erreichen müsste; anders gesagt: er müsste also dort um 8,4% besser als bei den Urnenwahlstimmen abschneiden. Verteilt man (hypothetisch) diese Stimmen proportional zur Gesamtstimmenzahl auf die 11 beanstandeten Bezirke, dann würde Hofer in jedem dieser Bezirke bei den Wahlkartenstimmen deutlich besser abschneiden als bei den Urnenstimmen. Das wäre eine massive systematische Abweichung vom Ergebnis in den nicht beanstandeten Bezirken. Die Wähler müssten also in den beanstandeten Bezirken ein dramatisch anderes Wahlverhalten gehabt haben, und die Manipulationsverursacher müssten ohne tatsächliche Kenntnis der Briefwahlergebnisse in den nicht beanstandeten Bezirken die Ergebnisse in den beanstandeten Bezirken genau so manipuliert haben, dass sie in das Muster der anderen Bezirke passten. Das würde hellseherische und statistische Fähigkeiten in ziemlich hohem Ausmaß erfordern!
Diese Überlegungen sind – um auf einen weiteren Gedanken Kletzers einzugehen – keine Hochrechnung, sondern eine Plausibilitätsprüfung von Daten und von Szenarien möglicher anderer Wahlausgänge. Unter Leuten, die mit Daten (und Wahlergebnisse sind Daten) arbeiten, hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass man bei Daten immer als erstes derartige Plausibilitätsuntersuchungen machen muss, um mögliche Verfälschungen zu entdecken.
Schlussfolgerung aus der Sicht eines Statistikers ist jedenfalls, dass die Wahlergebnisse der Bezirke zeigen, dass ein Wahlsieg Hofers durch verfälschte Ergebnisse in den 11 beanstandeten Bezirken zwar theoretisch denkmöglich, praktisch aber ausgeschlossen ist.
Es gibt eine Charakterisierung des Unterschieds zwischen Statistikern und Mathematikern: Wenn ein Statistiker und ein Mathematiker sehen, dass eine Münze 20x geworfen wird und 20x Kopf kommt, dann sagt der Mathematiker: „Ich bin soeben Zeuge eines äußerst unplausiblen aber möglichen Ereignisses geworden.“ Der Statistiker sagt: „Kann ich die Münze in die Hand nehmen und näher untersuchen?“
Im Falle der Wahlaufhebung verhält sich der Verfassungsgerichtshof wie der Mathematiker, er zieht alles, was denkmöglich ist, gleichermaßen in Betracht, auch wenn es mit praktischen Erfahrungen nicht im Einklang steht.
Die mit den Daten angestellten Überlegungen haben den Charakter eines völlig überzeugenden Indizienbeweises dafür, dass es keine ergebnisbeeinflussenden Manipulationen gegeben hat, und Indizienbeweise sind in der Rechtssprechung durchaus etablierte Beweismittel.
Auf meiner Webseite www.wahlanalyse.com werden diese Überlegungen noch detaillierter und grafisch aufbereitet dargelegt.