Die zwei Kulturen – und was in Österreich daraus wird
Der englische Wissenschafter C.P. Snow hat 1959 einen sehr beachteten Vortrag mit dem Titel „The two Cultures¨ gehalten. Dieser Vortrag wurde danach auch in gedruckter Form publiziert. Es geht darin um die kulturellen Unterschiede zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Im Englischen spricht man übrigens von Science und Humanities. Wenn ein Teil der Wissenschaften im deutschsprachigen Raum für sich in der Namensgebung den Geist beansprucht und ihn damit den anderen Fächern abspricht, dann ist das eigentlich beleidigend. Ein sehr geschätzter Kollege meint daher, dass die Bezeichnung Buchwissenschaften eigentlich treffender wäre, weil die von diesen Wissenschaften untersuchten Gegenstände hauptsächlich in Büchern zu finden wären.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Sehr deutlich in Erinnerung gerufen hat mir diese Geschichte der Artikel von Klaus Hödl im standard vom 13. Oktober. Dort liest man „Noch nie habe ich gehört, dass eine Veröffentlichung in einem englischsprachigen Peer-Review-Journal für den Erhalt einer Anstellung auch nur die geringste Rolle gespielt hätte”.
In den Naturwissenschaften (und dazu zählen wir der Einfachheit halber einmal auch Mathematik, Statistik und Informatik) ist derartiges nämlich mittlerweile auch in Österreich das wichtigste Kriterium für den Verlauf einer wissenschaftlichen Karriere. Wie extrem anders hier die wissenschaftlichen Kulturen bewerten möchte ich auch mit einer persönlichen Anekdote illustrieren:
Ich habe (gemeinsam mit einem US-Koautor) ein einigermaßen erfolgreiches Buch geschrieben. Das Buch ist 2009 erschienen und war bei der Vorstellung beim größten US-Statistik-Kongress ein ziemlicher Renner.
Der Verlag (Springer, einer der renommiertesten Verlage im Bereich der Naturwissenschaften) ist daraufhin mit uns beiden Autoren sehr pfleglich umgegangen. Und dann denkt man sich als naiver Naturwissenschafter, dass so ein erfolgreiches Werk in der eigenen Fakultät Ansehen bringen sollte.
Zu dieser Zeit wurde an der Universität Wien den Fakultäten vom Rektorat verordnet, dass sie Bewertungskriterien für wissenschaftliche Publikationen aufzustellen hatten, und dass ein Teil der einzelnen Forschungsgruppen zugeteilten Ressourcen an die nach diesen Kriterien bewerteten Forschungserfolge gebunden werden sollte. Meine Fakultät (die Fakultät für Informatik) hat sich damals selbst ein dreistufiges Bewertungsschema verordnet. A-wertige Publikationen waren vor allem Artikel in englischsprachigen Fachzeitschriften, B-wertig waren vor allem Beiträge in Proceedings (Sammelbänden der Kongressbeiträge) von angesehenen Konferenzen; alles andere war C-wertig. Bücher waren also automatisch nur C-wertig, d.h. unter „außerdem gibts da noch, ist aber nicht wirklich wichtig“ kategorisiert. Diese Bewertungsregeln wurden uns nicht von oben verordnet, die hat meine Fakultät selbst aufgestellt. Andere Fakultäten haben sich damals andere Regeln verordnet. Bei den „Geisteswissenschaften“ wurden Bücher in renommierten Verlagen als A-wertig eingestuft! Da die Anzahl der A-wertigen Publikationen auch beim Vergleich zwischen den Fakultäten und damit bei der Ressourcenzuteilung eine Rolle spielt, konnte ich die Kollegen an meiner Fakultät dann doch davon überzeugen, dass erfolgreiche Bücher in renommierten Verlagen doch nicht ganz gleich wie ein Artikel im wissenschaftlichen Äquivalent eines Lokalblattes bewertet werden sollten und meine Fakultät erweiterte das Klassifikationsschema für Publikationen. Neben der Einstufung A-wertig kam die Einstufung Ae-wertig dazu. Das e bedeutet extern, und gemeint war, dass eine Publikation, die nach den Kriterien einer anderen Fakultät A-wertig wäre, an unserer Fakultät als Ae-wertig eingestuft wurde. Ae war (und ist nach wie vor) höherwertig als B! Ebenso kam die Einstufung Be-wertig (also B-wertig nach
den Kriterien einer anderen Fakultät) dazu. Be lag (und liegt) zwischen B und C. Damit waren also für das nächste Jahr Bücher höher bewertet als vorher, und mein Buch wäre nach diese Kriterien als Ae-wertig eingestuft worden. Rückwirkend
wurde die entsprechende Regelung aber nicht in Kraft gesetzt. Somit brachte mir mein Buch keinen unmittelbaren Vorteil in der fakultätsinternen Konkurrenz um Ressourcen.
Und dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Mein Verlag stellte eine Nachfrage nach einer japanischen Übersetzung meines Buches fest. Die erschien dann auch im folgenden Jahr. Und damit hatte ich eine Ae-wertige Publikation! Das Buch selbst war nach den
damals aktuellen Kriterien meiner Fakultät nichts Besonderes, aber die japanische Übersetzung, die ich selber nicht einmal sinnverstehend lesen konnte, brachte meiner Forschungsgruppe zusätzliche Ressourcen!
Was hat das mit dem Kommentar von Herrn Hödl zu tun? Meine Erfahrungen zeigen (glaube ich zumindest), dass kurzfristig erstellte Bewertungsmaßstäbe für erfolgreiche wissenschaftliche Arbeit sehr stark von standortspezifischen Kriterien und von der gerade aktuellen Kultur der einzelnen Fächer geprägt werden. Sie zeigen aber auch, dass es kein absolut hoffnungsloses Unterfangen ist, zu versuchen, Kollegen zum Über-den-Tellerrand-Schauen anzuregen. Die Diskussion darüber, dass andere Fakultäten andere Kriterien erarbeitet hatten, hat letztendlich doch zu einer Adaption unserer Kriterien geführt. Wir waren tatsächlich imstande, von anderen Disziplinen zu lernen. Unter anderem auch, weil wir bei der Mittelvergabe in Konkurrenz zu den anderen Disziplinen stehen.
Die zwei Kulturen spielen übrigens nicht nur bei den Bewertungsmaßstäben eine Rolle. Man sollte sie auch beim Entwurf und bei der Implementation von computergestützten Lernumgebungen stärker berücksichtigen. Zu glauben, man könne an einer Universität die Vielfalt ihrer Disziplinen und die damit einhergehenden Lernkulturen mit einer einheitlichen Lernumgebung unterstützen, gehört wohl ins Reich der Utopien.