Celsius und Fahrenheit – Fixpunkte von Funktionen
In meinen #mathepuzzle-Tweets habe ich unlängst folgendes Puzzle gepostet:
Bei welcher Temperatur sind der Wert auf der Celsius-Skala und auf der Fahrenheit-Skala gleich?
Zusatzaufgabe: Ersetze Celsius durch Reaumur und löse das neue Problem.
Die klassische Methode (die man in der Schule lernt) ist, eine Gleichung aufzustellem und die zu lösen.
Die Umrechnungsformel lautet
$F=\frac{9}{5}C+32$
Wenn der Celsius-Wert und der Fahrenheit-Wert gleich sein sollen, dann müssen wir die Gleichung
$C=\frac{9}{5}C+32$
lösen. Die Lösung lautet $C=-40$.
Wir hätten auch die umgekehrte Umrechnungsformel nehmen können:
$C=\frac{5}{9}(F-32)$
Dann müssen wir die Gleichung
$F=\frac{5}{9}(F-32)$
lösen und erhalten die Lösung $F=-40$.
Was machen wir eigentlich, wenn wir eine der beiden Gleichungen lösen?
Wir haben eine Rechenvorschrift, die aus einem Input-Wert einen Output-Wert erzeugt.
In der Mathematik heißt so etwas eine Funktion. Die Fahrenheit→Celsius-Umrechnung wird durch die Funktion $f(x)=\frac{5}{9}(x-32)$ beschrieben.
Bei mathematischen Funktion wird ziemlich oft $x$ zur Bezeichnung des Inputs der Funktion verwendet.
Man kann sich eine Funktion als kleine Maschine vorstellen, die aus einem Input (der Zahl $x$), einen Output (die Zahl $f(x)$) erzeugt und der Rechenausdruck (in unserem Fall $\frac{5}{9}(x-32)$) beschreibt, wie die Maschine den Output aus dem Input erzeugt.
Die Frage, wann die Umrechnungsformel Fahrenheit→Celsius für Celsius (den Output) denselben Wert wie Fahrenheit (den Input) hat, ist also die Fragen, wann die Umrechnungsfunktion bei einem bestimmten Input genau Input-Wert wieder als Output produziert. Wir suchen also einen Wert $x$, für den der Output $f(x)$ gleich dem Input $x$ ist, wo also gilt $f(x)=x$. So einen Wert nennt man Fixpunkt der Funktion $f$.
Und jetzt machen wir etwas, was Mathematiker eher nicht tun, Informatiker und/oder Programierer aber ziemlich oft: Wir geben unseren Funktionen sprechende Namen.
$\textit{FtoC}(x)=\frac{5}{9}(x-32)$
$\textit{CtoF}(x)=\frac{9}{5}x+32$
Etwas suggestiver können wir die Umrechnungen auch so aufschreiben:
$x \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} \frac{5}{9}(x-32)$
und
$x \overset{\textit{CtoF}}{\mapsto} \frac{9}{5}x+32$
Eine konkrete Umrechnung können wir dann so aufschreiben
$\textit{FtoC}(68)=20$ oder
$68 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} 20$
Man kann (zunächst als mathematische Spielerei) die Umrechnungsfunktion auf das Ergebnis noch einmal anwenden:
$68 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} 20 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} -6.66$
und das sogar mehrfach tun
$68 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} 20 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} -6.66 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} -21.48 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} -29.71$
Im folgenden Excel-Arbeitsblatt wird diese Iteration noch viel öfter wiederholt.
Durch Doppelklicken auf die 2. Zelle sieht man, dass dort die Formel =5/9*(A1-32)
steht, in der 3. Zelle steht =5/9*(A2-32)
usw. In jeder Zelle (außer der ersten) steht also das Ergebnis, das man bekommt, wenn man die $\textit{FtoC}$-Umrechnung auf den Wert in der Zelle darüber anwendet. Das entspricht ganz genau der Kette von Anwendungen
$68 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} 20 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} -6.66 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} -21.48 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} -29.71$
Wenn man im Arbeitsblatt hinunterscrollt, dann sieht man, dass sich die Werte in den Zellen sehr schnell an den Wert 40 annähern. Beim Startwert 68 nach 10maliger Anwendung, also in der 11. Zelle bekommt man schon 39.6975, nach 19 Iterationen den Wert 39.998 und nach 33 Iterationen den Wert -40.
In der Sprache der Mathematik sagt man, dass die Werte gegen den Wert -40 konvergieren.
Sie können den Startwert (in der gelben Zelle) beliebig ändern, dann sehen sie, dass diese Iteration immer gegen -40 konvergiert!
Mathematisch gesprochen konvergiert die wiederholte Anwendung der Funktion $\textit{FtoC}$ also immer gegen 40, und 40 ist der Fixpunkt der Funktion.
Wenn sie mit -40 beginnen, dann steht in allen Zellen -40. -40 ist der Fixpunkt, daher ergibt Anwenden von $\textit{FtoC}$ wieder -40 und das nächste Anwenden von $\textit{FtoC}$ wieder -40 usw.
In der folgenden Tabelle wenden wir die andere Umrechnungsfunktion (also $\textit{CtoF}$) mehrfach an:
In dieser Tabelle nähern sich die Werte dem Fixpunkt nicht an, sie explodieren geradezu.
Sie können das mit verschiedenen Anfangswerten in der gelben Zelle probieren.
Es gibt nur eine einzige Ausnahme, nämlich wenn man gleich mit dem Fixpunkt -40 startet.
Warum verhält sich dieses Verfahren bei den beiden Funktionen, die einander mathematisch gesehen doch sehr ähnlich sind (beides sind lineare Funktionen), so verschieden?
$\textit{FtoC}$ hat folgende Eigenschaft: Wenn man 2 verschiedene Werte, z.B. 59 und 68, einsetzt,
dann erhält man $59 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} 15$ und
$68 \overset{\textit{FtoC}}{\mapsto} 20$.
59 und 68 haben den Abstand 9, 15 und 20 haben den Abstand 5. Das Anwenden von $\textit{FtoC}$ verringert also den Abstand zwischen den beiden Werten. Das ist immer so, wenn man 2 verschiedene Werte in $\textit{FtoC}$ einsetzt. Funktionen, die den Abstand zwischen Werten verringern, nennt man Kontraktionen, und $\textit{FtoC}$ ist eine Kontraktion.
$\textit{CtoF}$ hat diese Eigenschaft nicht. Nehmen wir die Werte 15 und 20, die haben den Abstand 5. Wir haben $15 \overset{\textit{CtoF}}{\mapsto} 59$ und
$20 \overset{\textit{CtoF}}{\mapsto} 68$ und der Abstand zwischen 59 und 68 ist 9. Der Abstand wurde also vergrößert, und das ist immer so, wenn man 2 verschiedene Werte einsetzt.
Es gibt eine Reihe mathematischer Resultate, die sich mit Fixpunkten beschäftigen, und ein wichtiges Resultat besagt (in etwas laxer Formulierung), dass Kontraktionen genau einen Fixpunkt haben, und dass wiederholtes Anwenden der Funktion immer gegen den Fixpunkt konvergiert, und zwar unabhängig davon, welchen Startwert man wählt.
Wenn die Funktion keine Kontraktion ist, dann gilt das nicht.
Lineare Funktionen, die man so aufschreiben kann: $x \overset{\textit{f}}{\mapsto} kx+d$, sind immer Kontraktionen, wenn $-1 < k < 1$. Daher haben alle diese Funktionen einen Fixpunkt und wenn man die Funktion von einem beliebigen Startpunkt aus wiederholt andwendet, dann nähern sich diese Werte dem Fixpunkt an.
Fixpunkte, die beliebige Startwerte „anziehen“, nennt man attrahierende Fixpunkte oder Attraktoren.
Fixpunkte, die beliebige Startwerte „abstoßen“, nennt man abstoßende Fixpunkte oder Repelloren.
-40 ist für $\textit{FtoC}$ ein anziehender Fixpunkt und für $\textit{CtoF}$ ein abstoßender Fixpunkt.
Fixpunktverfahren sind wichtig zum Lösen von komplizierten Gleichungen, für die es keine algebraischen Lösungsverfahren gibt.
Diese Überlegungen sollten AHS- und BH-Schüler(innen) zugänglich sein, und da diese Verfahren auch praktisch bedeutsam sind, sollte man derartige Themen auch in diesen Schulen behandeln. Meinem Wissensstand nach ist das aber im normalen Lehrplan nicht vorgesehen.