Geschlechterunterschiede, Bildung und PISA
Die OECD hat unlängst – im Zusammenhang mit dem Welttag der Frauen – Auswertungen über Geschlechterunterschiede bei der PISA-Studie veröffentlicht. In Österreich wurde am meisten kommentiert, dass sich die Schere zwischen den Geschlechtern seit 2003 am stärksten von allen Ländern geöffnet hat. In Mathematik sind die Mädchen merkbar schlechter als die Buben, und der Unterschied hat laut OECD von 2003 auf 2012 in keinem Land so stark zugenommen wie in Österreich. Der Unterschied ist tatsächlich ziemlich groß, ca. 20 PISA-Punkte. Das gilt aber für alle 4 PISA-Erhebungen außer der von 2003.
Weitaus weniger wurde thematisiert, dass beim Lesen die Buben weitaus schlechter sind als die Mädchen, und dass der Unterschied da etwa doppelt so groß ist wie bei Mathematik; die Mädchen sind um ca. 40 PISA-Punkte besser. Ausnahme 2003: Da sind (laut OECD) die Mädchen sogar um 47 Punkte besser.
Der anscheinend beobachtete extreme Zuwachs beim Mathematik-Unterschied beruht ganz entscheidend auf der Verankerung an den Ergebnissen von 2003.
Zieht man alle PISA-Untersuchungen (also vor und nach 2003) in Betracht, dann stellt sich heraus, dass sowohl beim Lesen als auch bei Mathematik die Geschlechterunterschiede bei PISA 2003 merkbar anders als zu den anderen Erhebungszeitpunkten sind. Das legt den Verdacht nahe, dass 2003 irgend etwas bei der Datenerfassung atypisch war. Und so war es auch.
Bei PISA 2003 gabs ein Problem mit der Zusammensetzung der Schüler. Einige der als Zufallsstichprobe ausgewählten AHS hatten deutlich mehr Mädchen als Buben; es gibt nämlich in Österreich – anders als in vielen anderen Ländern – immer noch Schulen, in die entweder sehr viel mehr Mädchen als Buben oder umgekehrt gehen.
AHS-Schülerinnen sind die besten Leser in der gesamten PISA-Stichprobe, und sie sind auch in Mathematik die beste Gruppe unter den Mädchen. Und sie waren in der Stichprobe überrepräsentiert. Daher hatten die Mädchen bessere PISA-Ergebnisse als es der tatsächlichen Zusammensetzung der gesamten Schülerpopulation entspricht. Analog hatten die Buben in der PISA-Stichprobe etwas schlechtere Ergebnisse. Buben sind in Mathematik besser als Mädchen; da es besonders viele gute Mädchen gegeben hat wurde der Geschlechterabstand im Vergleich zum „realen“ Wert verkleinert. Im Lesen sind die Mädchen besser als die Buben, und die besonders guten Mädchen waren noch überrepräsentiert, daher war der Stichprobenabstand beim Lesen größer als real. Dieser Effekt tritt nur bei den Werten für 2003 auf, die Werte vorher und nachher sind alle annähernd gleich. Ein Auseinanderdriften der Leistungen in Mathematik lässt sich, wenn man alle Daten betrachtet, nicht ableiten. Die OECD kennt die Verzerrung der Stichprobe, Andreas Schleicher (oberster PISA-Verantwortlicher) hat das Vorwort zu dem Buch verfasst, in dem wir (eine österreichische Arbeitsgruppe von Statistikern) die Probleme von PISA 2003 (und auch 2000) analysiert und Vorschläge zur Korrektur gemacht haben. Verwendet man die korrigierten Werte für 2003, dann wird der Abstand beim Lesen kleiner und in Mathematik größer und die Abstände bleiben über alle PISA-Erhebungen hinweg ziemlich konstant.
Bemerkenswert ist auch, dass die Tatsache, dass der Geschlechterunterschied im Lesen (zu Ungunsten der der Buben) ca. doppelt so groß ist wie der in Mathematik (zu Ungunsten der Mädchen), kaum thematisiert wird. Bei beiden Problemen sollte dringendst etwas geschehen. Österreich gehört nämlich in Mathematik jedes Mal zu den Ländern mit dem größten Geschlechterabstand. Beim Lesen ist der Geschlechterunterschied im Vergleich zu vielen anderen Ländern ebenfalls groß, in Finnland gibt es aber zum Beispiel einen weitaus größeren Geschlechterabstand beim Lesen als in Österreich, bei PISA 2012 etwa 60 Punkte.
Was bedeuten eigentlich diese PISA-Punkte? Ständig wird damit argumentiert, aber kaum jemand kann sich etwas darunter vorstellen. Diese Punkte stehen in einer mathematischen Beziehungen mit Lösungswahrscheinlichkeiten von Aufgaben mit bestimmtem Schwierigkeitsgrad. Wenn die Mädchen um 40 Punkte besser lesen als die Buben, dann heißt das, dass eine Aufgabe, die 50% der Buben lösen, von 62% der Mädchen gelöst wird. Wenn die Buben in Mathematik um 20 Punkte besser abschneiden, dann heißt das, dass eine Aufgabe, die 50% der Mädchen lösen, von 56% der Buben gelöst wird. 10 PISA-Punkte entsprechen also bei einer mittleren Lösungswahrscheinlichkeit (etwa 50%) einem Unterschied von etwa 3%.
Die Ergebnisse von PISA zeigen, dass wir in Österreich beträchtliche Unterschiede zwischen Buben und Mädchen haben, dass das aber vielleicht sogar eher zu Lasten der Buben als zu Lasten der Mädchen geht.
Diese Unterschiede sind über alle PISA-Perioden hinweg ziemlich konstant; es scheint sich also um systemimmanente Probleme zu handeln. Das heißt, dass es wahrscheinlich keine Schnellreparatur gibt. Umso mehr sollten wir uns anstrengen, die Ursachen genauer zu klären und dann entsprechende Strategien zur Reduktion der Unterschiede zu entwickeln.
Falls sie das selber genauer analysieren wollen:
Eine Excel-Datei mit den ursprünglichen und den korrigierten Werten gibts hier zum Download.
Eine Beschreibung unseres Buches und links zu den Daten, mit denen die Korrekturen durchgeführt wurden, gibts hier.