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Alltagstaugliche Mathematik und leichte Verständlichkeit mathematischer Argumente

Posted by Erich Neuwirth on 4. August 2019 in Allgemein |

In meiner Serie #mathepuzzle auf Twitter habe ich folgende Aufgabe gestellt:

Kartoffel bestehen zu 99% aus Wasser. 100 kg Kartoffel werden so dehydriert, dass sie danach nur mehr 98% Wassergehalt haben. Wie schwer ist diese dehydrierte Menge Kartoffel?

Die Argumentation geht so:

Vor der Dehydrierung besteht die Kartoffelmenge aus 99 kg Wasser und 1 kg Trockenmasse. Bei der Dehydrierung ändert sich das Gewicht der Trockenmasse nicht, das des Wassers natürlich schon. Nach der Dehydrierung gibt es also nach wie vor 1 kg Trockenmasse. Da es da nur mehr 98% Wasser gibt, gibt es 2% Trockenmasse. 1 kg sind also 2% des gesamten Gewichts. Daher ist das gesamte Gewicht 50 kg.

Auf Twitter hat @FrauHellman richtig argumentiert, dass das eine lebensfremde Aufgabe sei, weil der Wasseranteil bei Kartoffeln deutlich niedriger ist. Twitter-Recherche ergibt, dass er bei 78% liegt.

Mit diesen Werten muss man die Aufgabe so umschreiben, und dann ist das scheinbare Paradoxon nicht so deutlich sichtbar.

Daher habe ich (als Didaktiker) versucht, eine realistische Ausgangssituation zu finden, bei der auch die Grundidee des Gedankengangs klar erhalten bleibt.

Eine der wasserreichsten Gemüsesorten sind Salatgurken. Sie haben einen Wassergehalt von 97%.

Wir können dann die Aufgabe so formulieren:

Salatgurken bestehen zu 97% aus Wasser. 100 kg Salatgurken werden so dehydriert, dass sie danach nur mehr 94% Wassergehalt haben. Wie schwer ist diese dehydrierte Menge Salatgurken?

Die Argumentation geht diesmal so:
Vor der Dehydrierung besteht die Salatgurkenmenge aus 97 kg Wasser und 3 kg Trockenmasse. Bei der Dehydrierung ändert sich das Gewicht der Trockenmasse nicht, das des Wassers natürlich schon. Nach der Dehydrierung gibt es also nach wie vor 3 kg Trockenmasse. Da es nur mehr 94% Wasser gibt, gibt es 6% Trockenmasse. 3 kg sind also 6% des gesamten Gewichts (oder 1 kg ist 2% des gesamten Gewichts). Daher ist das gesamte Gewicht 50 kg.

Ich denke, dass es relativ leicht ist zu erschließen, dass, wenn 1 kg 2% des ganzen ist, das ganze 50 kg sein muss.
Zu erschließen, dass, wenn 3 kg 6% des ganzen ist, das ganze 50 kg sein muss, erscheint merkbar schwieriger.

Man kann entweder noch den Zwischenschritt: wenn 3 kg 6% sind, dann ist 1 kg 2% machen oder mit einem Rechenausdruck arbeiten:
$$
\text{Gesamtmenge}=3 \text{kg} \cdot \frac{1}{\frac{6}{100}} = 3\cdot \frac{100}{6} \text{kg} = 50 \text{kg}
$$

Es ist bei Prozentrechnungen sehr sinnvoll, zu verwenden, dass x% eine abgekürzte Schreibweise für $\frac{x}{100}$ ist. Das wollen wir im folgenden verwenden. Wir schreiben also 0.99 statt 99%.

Dann lautet die allgemeine Form der Aufgabe so:

Unser Gemüse besteht zu einem Anteil von $x$ aus Wasser. Eine Menge $m_1$ dieses Gemüses wird so dehydriert, dass sie danach nur mehr einen Anteil von $y$ Wasser enthält. Wie schwer ist diese dehydrierte Menge Salatgurken?

(Im Kartoffelbeispiel wäre $x=0.99$ und $y=0.98$, im Salatgurkenbeispiel wäre $x=0.97$ und $y=0.94$)

Jetzt argumentieren wir so. Vor der Dehydrierung ist das Gewicht der Trockenmasse $m_1\cdot (1-x)$.
Bei der Dehydrierung wird aus der Gesamtmasse $m_1$ die kleinere Gesamtmasse $m_2$. Nach der Dehydrierung ist das Gewicht der Trockenmasse $m_2\cdot (1-y)$. Da das Gewicht der Trockenmasse gleich bleibt gilt $m_1\cdot (1-x)=m_2\cdot (1-y)$. Umgeformt ergibt das die Gleichung

$$m_2=m_1\frac{1-x}{1-y}$$

$x$, der Wasseranteil vorher, ist größer als $y$, der Wasseranteil nachher. Daher ist $1-x$, der Trockenmasseanteil vorher, kleiner als $1-y$, der Trockenmasseanteil nachher und es ist daher $\frac{1-x}{1-y} < 1$ und daher auch $m_2 < m_1$.

Die algebraische Darstellung ist also mit der sachlich begründeten Tatsache, dass das Gesamtgewicht kleiner wird, in Einklang.

Allerdings ist die Algebraisierung der Aufgabe durchaus anspruchsvoll. Ich habe dazu Papier und Bleistift benötigt, nur per Kopfrechnung habe ich das nicht geschafft.

Die ursprünglichen Aufgaben mit konkreten Zahlen dagegen kann man leicht mit Kopfrechnen lösen.

Meiner Meinung nach illustriert dieses Beispiel, dass man mathematische Denkmuster zunächst an konkreten Zahlenbeispielen entwickeln und erst danach in einer algebraischen Darstellung behandeln soll.

Ich kenne noch ein weiteres Beispiel, wo möglicherweise eine unglückliche Wahl der Zahlen in der Ausgangsformulierung die Einsicht in die Lösung des Problems deutlich erschwert. Es ist das Paradoxon von Achilles und der Schildkröte.

Die klassische Formulierung lautet so.

Achilles und die Schildkröte machen ein Wettrennen über 300m. Achilles läuft 10x so schnell wie die Schildkröte. Daher bekommt die Schildkröte eine Vorgabe von 100m. Wo überholt Achilles die Schildkröte?

Das Paradoxon besteht darin, dass argumentiert wird (schon Zenon von Elea im alten Griechenland machte das so), dass Achilles die Schildkröte nie überholt. Wenn er die 100m gelaufen ist, ist die Schildkröte schon 10m weiter. Wenn er diese 10m gelaufen ist, ist die Schildkröte 1m weiter, wenn er diesen 1m gelaufen ist, ist die Schildkröte 10cm weiter usw.

Wäre Achilles nur doppelt so schnell wie die Schildkröte, dann wäre unmittelbar einsichtig, dass dann, wenn die Schildkröte 100m gelaufen ist, Achilles 200m gelaufen ist und er sie daher genau dort überholt. Wenn er 10x schneller ist, muss er sie schon vorher überholen.

In diesem Fall muss man also überlegen, wann die Strecke des Achilles dieselbe ist wie die Strecke der Schildkröte. Wenn die Schildkröte die Strecke $x$ zurückgelegt hat, dann hat Achilles die Strecke $10\cdot x$ zurückgelegt. Wenn die Schildkröte die Strecke $x$ zurückgelegt hat, dann ist sie $100+x$ vom Start des Achilles entfernt. An dem Punkt, wo Achilles die Schildkröte überholt, muss also die Gleichung $100+x=10\cdot x$ gelten. Die Lösung ist $x=\frac{100}{9}$. Also überholt Achilles die Schildkröte, wenn sie $\frac{100}{9}=11.111111…\text{m}$ gelaufen ist. Achilles ist dann $111.11111…\text{m}$ gelaufen.

Die Aufgabe ist dramatisch einfacher zu lösen, wenn Achilles doppelt so schnell ist wie die Schildkröte, als im klassischen Fall, wenn er 10x so schnell ist.

Auch das betrachte ich als Beleg dafür, dass es ein sehr wichtiges didaktisches Anliegen ist, bei Aufgaben mit Zahlen, die eine Idee erkennbar machen sollen, die Zahlen so zu wählen, dass die eigentliche Idee nicht durch relativ aufwändige Umformungen so verdeckt wird, dass ihr Kern nur mehr schwer erkennbar wird.

1 Comment

  • Sebastian sagt:

    Was mir nicht ganz klar ist: Wenn Gemüse X zu 97% aus Wasser besteht und das Gesamtgewicht 100kg ist, woher schließe ich, dass das Wasser nun 97kg ist? Damit wäre die Dichte der trockenen Substanz ja gleich der des Wassers, was nicht unbedingt sein muss.
    Oder soll die Aufgabe heißen „Eine Gurke hat einen Gewichtsanteil von 97% Wasser“?

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