Wie zählt man Teilnehmer an Demonstrationen?

Posted by Erich Neuwirth on 30. Januar 2015 in Allgemein |

Heute gibt es in Wien Demonstrationen gegen den Akademikerball.

In Dresden und Leipzig gibt es regelmäßig LEGIDA und PEDIGA Demonstrationen.

Bei solchen Gelegenheiten gibt es immer wieder einander widersprechende Angaben über die Zahl der Teilnehmer an den Demonstrationen.

Der Mathematiker Christian Hesse hat in seinem Blog auf der Website der Zeit darüber etwas geschrieben.

Allerdings ist ihm dabei ein (mittlerweile korrigierter) Fehler unterlaufen, und außerdem kann man (glaube ich zumindest) das dort beschriebene Zählverfahren mit einer einfacheren Faustregel formulieren.

Das von Hesse beschriebene Verfahren stammt von Herbert Jacobs, einem Journalisten, der in seinem Ruhestand auch an der University of California in Berkeley gelehrt hat. Während der Anti-Vietnamkrieg-Demonstrationen in Berkeley machte er eine Beobachtung (zitiert nach Wikipedia und den dort angegebenen Quellen):

[Jacobs’s] office was in a tower that overlooked the plaza where students frequently gathered to protest the Vietnam War. The plaza was marked with regular grid line which allowed Jacobs to see how many grid squares were filled with students and how many students on average packed into each grid. After gathering data on numerous demonstrations, Jacobs came up with some rules of thumb that still are used today by those serious about crowd estimation. A loose crowd, one where each person is an arm’s length from the body of his or her nearest neighbors, needs 10 square feet per person. A more tightly packed crowd fills 4.5 square feet per person. A truly scary mob of mosh-pit density would get about 2.5 square feet per person.

Wenn man das genau in metrische Maße übersetzt, dann heißt es, dass in einer locker aufgestellten Menge eine Person etwa 0,93 m² beansprucht, in einer Menge mittlerer Dichte etwa 0,41 m² und in einer ganz dicht gedrängten Menge 0,23 m².

In der Erstfassung des Artikels waren diese Werte in cm² angegeben, und da war bei der Umrechnung eine Null verloren gegangen. Man konnte also ursprünglich lesen, dass eine Person in einer dichten Menge 230 cm² benötigt. 0,23 m² sind aber 2300 cm²! Dieser Fehler ist wahrscheinlich passiert, weil kaum jemand mit den 230 cm² eine unmittelbare Vorstellung verbindet. 0,23 m² sind ein viertel Quadratmeter, davon hat man eine Vorstellung. Mehrere hundert Quadratzentimeter sind aber nichts, womit man sofort eine Vorstellung verbindet. Man kann sich allerdings überlegen, dass ein Blatt Papier im A4-Format etwa 600 cm² Fläche hat. Bei 230 cm² pro Person müssten also mindestens 2 Personen auf einem normalen Blatt Papier stehen!

Ein Erwachsener ist aber typischerweise etwa 1/2 m breit, oder auch etwas mehr. Schulter an Schulter beanspruchen daher 2 Personen etwa einen Meter Breite, und wenn es noch ein bisschen Platz vor und hinter jeder Person gibt, dann stehen auf einem Meter auch etwa 2 Personen hintereinander.

Wäre Herr Jacobs mit dem metrischen System aufgewachsen, dann hätte er wahrscheinlich so formuliert:

In einer locker aufgestellten Menschenmenge beansprucht jede Person etwa 1 m², in einer mitteldichten Menge etwa 1/2 m², und in einer ganz dichten Menge 1/4 m².

Wenn man das so formuliert, dann kann man die Zahlen immer noch mit einer unmittelbaren Vorstellung verbinden und die Gefahr, sich um einen Faktor 10 zu verrechnen, ist wesentlich geringer.

Wenn man die Dichte der Menschenmenge (Personen pro m²) so abgeschätzt hat, dann braucht man noch die Fläche, die die Personen einnehmen, und kann sofort die Zahl der Personen berechnen.

Das geht mit Luftaufnahmen oder Fotos von einem erhöhten Standpunkt aus.

Es gibt Websites, auf denen man auf Satellitenbildern von Google Maps Flächen markieren und dann deren Inhalt berechnen lassen kann.

Man kann zum Beispiel den Heldenplatz in Wien markieren.

Die markierte Fläche ist ca. 28.000 m² groß, und man kann ausrechnen, dass dann bei einer wirklich dicht gedrängten Menschenmenge etwa 120.000 Menschen auf den Platz passen. Bei einer locker aufgestellten Menschenmenge passen etwa 30.000 Menschen auf den Platz.

Diese Überlegungen zeigen, dass die Kombination von Hausverstand (wieviele Menschen passen auf einen Quadratmeter) und Computertechnologie (mit Google-Erweiterungen kann man auf einem Plan oder Satellitenfoto markierte Flächen berechnen) es möglich macht, Zahlen, mit denen politische argumentiert wird, auf Plausibilität zu untersuchen.

Der Mathematikunterricht könnte auf diese Weise einen Beitrag zur politischen Bildung leisten!

 

Nachtrag: Mit der aktuellen Version von Google Maps braucht man keine Google-Erweiterung mehr. Rechts-Klick auf eine Karte (oder ein Satellitenfoto) biete eine Options Entfernung messen, und wenn man damit eine geschlossene Fläche markiert, dann wird auch der Flächeninhalt berechnet.

Mittlerweile gibt es auch ein auf Google Maps basierendes Tool, mit dem man eine Fläche auf der Landkarte markiert, die durschnittliche Zahl von Personen pro m² eingibt und dann eine Schätzung der Zahl der Personen in der Menschenmenge erhält.

Nachtrag (19. März 2017):

Hier gehts zum tool.
https://www.mapchecking.com/#48.2085870,16.3598067;48.2085668,16.3601500;48.2072371,16.3597530;48.2072169,16.3594043;3;48.2078024,16.3591421,18

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